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Wittkamp, Thomas: Benefizien und Vasallität - Studien über die Beziehungen zwischen Gefolgsleuten und ihren Herren in der Karolingerzeit aus historisch-anthropologischer Perspektive

Wittkamp, Thomas: Benefizien und Vasallität - Studien über die Beziehungen zwischen Gefolgsleuten und ihren Herren in der Karolingerzeit aus historisch-anthropologischer Perspektive

 

Das Lehnswesen galt als zentraler Bestandteil der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung, bis im Jahr 1994 die britische Historikerin Susan Reynolds ihr Buch „Fiefs and Vassals. The Medieval Evidence Reinterpreted“ veröffentlichte.1 Darin stellte Reynolds die Interpretation der Quellenbegriffe durch die Forschung und das daraus gewonnene Konzept des Lehnswesens grundsätzlich in Frage. Reynolds behauptete, dass das Lehnswesen ein Konstrukt moderner Forscher war, die frühneuzeitlichen und hochmittelalterlichen Juristen aufgesessen seien. Ein durchgehender rechtlicher oder technischer Zusammenhang von Vasallität, Benefizialleihe und daraus resultierenden Militärdienstpflichten lasse sich insbesondere für das Frankenreich im frühen Mittelalter nicht nachweisen.2 Neuere Forschungen im Anschluss an Reynolds Thesen konnten ihre Befunde weitgehend bestätigen und machten deutlich, wie notwendig eine Neubetrachtung der Phänomene, welche die Forschung früher dem Lehnswesen zugerechnet hat, geworden ist.3

Eine solche Neubetrachtung leistet das beschriebene Dissertationsprojekt für das Frankenreich unter der Dynastie der Karolinger. Dabei stehen nicht länger rechtliche und verfassungsgeschichtliche Aspekte von Vasallität und Benefizium im Vordergrund, sondern die Dynamik des Einsatzes dieser Elemente in den Beziehungen von Gefolgsleuten und ihren Herren. Nicht die Spielregeln – um einen häufig verwendeten Terminus der Mediävistik der letzten zwei Jahrzehnte aufzugreifen - sondern das Spiel, also die Taktiken und Strategien, die Manipulationen und Interpretationen der Gefolgsleute und ihrer Herren sind Gegenstand der Untersuchung.4 Dazu werden mittels einer historisch-anthropologischen Perspektive die Beziehungen der Akteure und die Praxis des Aushandelns dieser Beziehungen in den Blick genommen.5 Dies geschieht durch anthropologische Ansätze, die nach dem Einsatz von Ritualen und Gesten6, Patronage- und Freundschaftsverhältnissen7, Gaben und Geschenken8 sowie Emotionen und Vertrauen9 fragen. Ergänzend dazu erfolgt eine begriffliche Analyse historiographischer und literarischer Quellen, um den Vorstellungen der Zeitgenossen über Vasallität und Benefizien auf die Spur zu kommen.10

Anhand einer Reihe von Fallstudien, die sich über das 8. und 9. Jahrhundert verteilen, wird untersucht, welche Rolle die Vasallität und Benefizien in der Karolingerzeit – auch im Vergleich mit anderen Phänomenen – spielten.11 Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob sich Veränderungen bei Vasallenbeziehungen und Benefizienvergaben im Verlauf der Karolingerzeit feststellen lassen. Erste Beobachtungen nähren Zweifel an der klassischen Einteilung der Karolingerzeit in eine Phase entwickelter Staatlichkeit unter Karl dem Großen und Ludwig dem Frommen und eine Phase „feudalen“ Zerfalls im späten neunten Jahrhundert. Stattdessen erscheint das Frankenreich in der Karolingerzeit aus einer anthropologischen Perspektive insgesamt „ottonischer“ als bislang angenommen.12

 

1 Reynolds, Susan: Fiefs and Vassals. The Medieval Evidence Reinterpreted. Oxford 1994.

2 Reynolds, Fiefs and Vassals (wie Anm. 1), S. 3-7, 32, 47-49, 84-113, 475-476, 478-479.

3 Zusammenfassend: Dendorfer, Jürgen: Zur Einleitung. in: Dendorfer, Jürgen; Deutinger, Roman (Hrsg.): Das Lehnswesen im Hochmittelalter. Forschungskonstrukte – Quellenbefunde – Deutungsrelevanz. Ostfildern 2010, S. 11-39, ebd. S. 18-20 mit der Literatur in Anm. 24 und 26 sowie auf S. 21-23 in Anm. 41-44.

4 Althoff, Gerd (Hrsg.): Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde. Darmstadt 1997. Garnier, Claudia; Kamp, Hermann (Hrsg.): Die Spielregeln der Mächtigen. Mittelalterliche Politik zwischen Gewohnheit und Konvention.

5 Insofern unterscheidet sich die Arbeit von der bereits veröffentlichten Dissertation von Oliver Salten: Salten, Oliver: Vasallität und Benefizialwesen im 9. Jahrhundert. Studien zur Entwicklung personaler und dinglicher Beziehungen im frühen Mittelalter. Hildesheim 2013. Dressel, Gerd: Historische Anthropologie. Eine Einführung. Wien, Köln, Weimar 1996. Winterling, Aloys (Hrsg.): Historische Anthropologie. Stuttgart 2006.

6 Le Goff, Jacques: Le rituel symbolique de la vassalité. in: Le Goff, Jacques (Hrsg.): Pour un autre Moyen Âge. Temps, travail et culture en Occident: 18 essais. Gallimard 1977, S. 349–420. Althoff, Gerd: Ritual und Demonstration in mittelalterlichem Verhalten. in: Brall, Helmut; Haupt, Barbara; Küsters, Urban (Hrsg.): Personenbeziehungen in der mittelalterlichen Literatur. Düsseldorf 1994, S. 457–476. Buc, Philippe: The Dangers of Ritual. Between Early Medieval Texts and Social Scientific Theory. Princeton 2002.

7 Althoff, Gerd: Verwandte, Freunde und Getreue. Zum politischen Stellenwert der Gruppenbindungen im frühen Mittelalter. Darmstadt 1990. Epp, Verena: Amicitia. Zur Geschichte personaler, sozialer, politischer und geistlicher Beziehungen im frühen Mittelalter. Stuttgart 1999. Airlie, Stuart: Bonds of Power and Bonds of Association in the Court Circle of Louis the Pious. in: Godman, Peter (Hrsg.): Charlemagne's Heir. New Perspectives on the Reign of Louis the Pious (814-840). Oxford 1990, S. 191–204. Emich, Birgit; Reinhardt, Nicole; Thiessen, Hillard von; Wieland, Christian: Stand und Perspektiven der Patronageforschung. Zugleich eine Antwort auf Heiko Droste. in: Zeitschrift für Historische Forschung, Nr. 32, 2005, S. 233–265.

8 Cohen, Esther; Jong, Mayke de (Hrsg.): Medieval Transformations. Texts, Power, and Gifts in Context. Leiden, Boston, Köln 2001. Algazi, Gadi; Groebner, Valentin; Jussen, Bernhard (Hrsg.): Negotiating the Gift. Pre-Modern Figurations of Exchange. Göttingen 2003. Curta, Florin: Merovingian and Carolingian Gift Giving. in: Speculum, Nr. 81 (No. 3), 2006, S. 671–699.

9 Althoff, Gerd: Empörung, Tränen, Zerknirschung. 'Emotionen' in der öffentlichen Kommunikation des Mittelalters. in: Frühmittelalterliche Studien, Nr. 30, 1996, S. 60–79. Rosenwein, Barbara H.: Emotional Communities in the Early Middle Ages. Ithaca NY 2006. Althoff, Gerd: Establishing Bonds: Fiefs, Homage, and Other Means to Create Trust. in: Bagge, Sverre; Gelting, Michael H.; Lindkvist, Thomas (Hrsg.): Feudalism. New Landscapes of Debate. Turnhout 2011, S. 101–114.

10 Goetz, Hans-Werner: „Vorstellungsgeschichte“: Menschliche Vorstellungen und Meinungen als Dimension der Vergangenheit. Bemerkungen zu einem jüngeren Arbeitsfeld der Geschichtswissenschaft als Beitrag zu einer Methodik der Quellenauswertung. in: Goetz, Hans-Werner et al. (Hrsg.): Vorstellungsgeschichte. Gesammelte Schriften zu Wahrnehmungen, Deutungen und Vorstellungen im Mittelalter. Bochum 2007, S. 3-17 (253-271).

11 Eickels, Klaus van: Verwandtschaftliche Bindungen, Liebe zwischen Mann und Frau, Lehenstreue und Kriegerfreundschaft: Unterschiedliche Erscheinungsformen ein und desselben Begriffs? in: Schmidt, Johannes F. K.; Guichard, Martine; Schuster, Peter; Trillmich, Fritz (Hrsg.): Freundschaft und Verwandtschaft. Zur Unterscheidung und Verflechtung zweier Beziehungssysteme. Konstanz 2007, S. 157–164.

12 Deutinger, Roman: Königsherrschaft im Ostfränkischen Reich. Eine pragmatische Verfassungsgeschichte der späten Karolingerzeit. Ostfildern 2006, ebd. S. 11, 390, 398. Airlie, Stuart: Charlemagne and the Aristocracy. Captains and Kings. in: Story, Joanna E. (Hrsg.): Charlemagne. Empire and Society. Manchester, New York 2005, S. 90–102, ebd. S. 91, 94. Vgl.: Althoff, Gerd: Die Ottonen. Königsherrschaft ohne Staat. Stuttgart, Berlin, Köln 2000, ebd. S. 7-8, 10, 230-231, 243.
 

Herrschaft, Gesellschaft, Bindungen, Anthropologie, Frühmittelalter, Karolinger

pouvoir, société, attache, anthropologie, Haut Moyen Âge, Carolingiens

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